Das Ende der Zeiten

Drei Journalisten setzen sich zusammen und wollen ein Buch machen. Das Thema ist schnell gefunden, die Autoren sind auch rasch bei der Hand, es soll um „Zeit“ gehen, schließlich naht das Millennium. Die drei französischen Journalisten, darunter die ehemalige documenta-Chefin Catherine David, fragen also vier namhafte Autoren an, und sie fuhren Interviews, die wir nun lesen. Die vier Persönlichkeiten sind: Umberto Eco, der Zeichentheoretiker aus Bologna, bekannter wohl als Autor von Romanen, der Paläontologe Stephen Jay Gould, ebenfalls bekannt mit seinen Bachem zur Entwicklungsgeschichte der Menschheit, der Drehbuchschreiber Jean Claude Carrière, der mit Bunuel, Godard oder Schlöndorff gearbeitet hat, sowie der Religionswissenschaftler Jean Delumeau, Professor am ehrwürdigen Collège de France. Vier große Namen und Bereiche, und was kommt bei diesem ehrgeizigen und weitgespannten Projekt heraus? Die Antwort ist klar und traurig zugleich: Eine Art intellektuelles Cocktailgeplauder zum Thema ‚Zeit“, mehr nicht! Oliver Seppelfricke | 07.02.2000 Stephen Jay Gould ist Paläontologe. Das heißt, er bringt materielle Zeugnisse wie Gesteinsfunde oder Knochen zur Sprache in einer Wissenschaft, die Biologie und Geologie zugleich ist Er räsoniert über die Entwicklung der Menschheit und des Universums. Sein Beitrag ist der informativste in diesem Band. Stephen Jay Gould erklärt ausführlich und anschaulich, warum zum Beispiel alle unsere Kalenderrechnungen ungenau sind. So, weil Dionys der Kleine, den Papst Johannes I. im 6. Jahrhundert mit der Zeitrechnung beauftragte, die Null nicht benutzte, und somit den Streit begründete, ob das Millennium nun am 1. 1- 2000 oder am 1. 1. 2001 anfängt. Oder sei es, weil auch der Cäsarische, der Julianische oder der Gregorianische Kalender, die Gould beschreibt, Abweichungen beinhalten, denn sie konnten die genaue Dauer des Erdenlaufs um die Sonne damals noch nicht auf die Millisekunde berechnen. So kam es zu den Schaltjahren. Nach allerlei Erwägungen zur Apokalypse des Johannes, zur Evolution des Universums, zur Frage, warum gerade an unserem Jahrtausendende die Untergangsvisionen solche Konjunktur haben, kommt Gould zu dem nüchternen Fazit: Die Erde hat schon viele Katastrophen erlebt und überlebt, zum Beispiel die vor 250 Millionen Jahren, als ein Meteorit nicht nur die Dinosaurier, sondere mit ihnen zugleich 95 Prozent alter wirbellosen Meeresarten auf der Erde vernichtete (so jedenfalls lautet seine Theorie). Da wird es, so Gould, am 31.12. dieses Jahres wohl nur ein paar Betrunkene und Straßenverkehrsopfer mehr geben, ein paar zusätzliche Fernreisen und Feste, sonst nichts. Und außerdem: Was will die Menschheit eigentlich? Mit 200. 000 Jahren ist sie doch relativ jung auf der Erde gegenüber den Bakterien, die schon 3,5 Milliarden Jahre da sind – was soll also die Aufregung über ein mögliches Ende? Auch bei Jean Delumeau, dem Religionswissenschaftler, überwiegt dieser nüchterne Geist. Delumeau erklärt uns geduldig die religionsgeschichtlichen Hintergründe der Zeitvorstellung bei Juden, Christen und Islam und erläutert Fragen wie die, warum manche christliche Fundamentalisten in den USA Aids als eine Strafe Gottes ansehen. Auch da ist der Endzeitglaube aktiv! Erst bei Jean-Claude Carrière, dem Drehbuchschreiber und Gelehrten, wird diese intellektuelle Plauderei ärgerlich Nach dem Stickmuster zwei rechts, zwei links, hier eine Masche fallenlassen, da eine aufheben, überbieten sich die Fragesteller, die Journalisten, gegenseitig, stellen ihr Wissen zur Schau anstatt den Gedanken konsequent vorwärtszutreiben! So entsteht Beiläufigkeit, auf beiden Seiten! Von Überlegungen aus der modernen Astrophysik, von den Nanosekunden des Teilchenbeschteunigers, kommt Delumeau über das Verschwinden bestimmter grammatikalischer Zeitformen und die schmatzenden Uhren Dalis auf das hinduistische Zeitalter des Kaliyuga zu sprechen, das Zeitalter der Zerstörung. Das alles ist interessant, nur man wird es genauso schnell wieder vergessen, wie man es gelesen hat! Und auch der Beitrag Umberto Ecos kann das Buch nicht retten: Auch wenn es spannend ist, über das Jahr-2000-Computerproblem zu philosophieren, oder aber den esoterischen Basteisatz in unserem NewAge-Zeitalter, auch wenn es interessant ist, über moderne Speichermedien, virtuelle Bibliotheken oder eine „Kunst des Vergessens,“ zu hören, so kann all dies doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir es hier mit einem äußerst disparaten Sammelsurium einzelner Gedanken zu tun haben. Die zwar spannend sind, aber eben auch sehr kurzlebig und zerfahren. Eine klarere Gesprächsführung seitens der befragenden Journalisten hätte hier Schlimmeres verhindern können, doch das Gegenteil ist eingetreten. Das Gespräch zerfasert, vom Hölzchen kommt man aufs Stöckchen in einer losen Plauderei. Fazit also dieses Buches: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und vier prominente Autoren machen noch lange kein Buch. Und ein nötiges Wort noch zur Übersetzung: Sie ist so holprig und ungelenk, dass es wahrlich keine Freude ist, sie zu lesen. Vieles wird so umständlich ausgedrückt, dass die Eleganz mancher Gedanken völlig verschwindet. Das Verständnis des Buches behindert das sehr. Zudem sollte es besser „Zeit“ statt „Das Ende der Zeiten“ heißen. Denn von diesem ist nur unter anderem die Rede. Aber schließlich hatte ja schon Augustinus vom Großthema „Zeit“ abgeraten, und Leser lockt man besser mit dem Titel „Das Ende der Zeiten“! Denn das soll uns ja schließlich bald bevorstehen! [1] Gekürzte Zusammenfassungen aus: Umberto Ecco u.a.: Das Ende der Zeiten, Köln 1999, Seiten 281ff

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