Der Traum des Hirten
Draußen an des Waldes Saum
steht ein tausendjähr’ger Baum,
eine mächt’ge Rieseneiche.
Dort – gestreckt ins Moos, das weiche –
liegt ein Knabe tief im Traum.
Und er träumt von Glück und Macht,
Goldesglanz und Königspracht,
während auf dem grünen Rasen
seine Schafe friedlich grasen,
vom getreuen Hund bewacht.
Alles beugt sich seinem Stern,
Bürger, Priester, große Herrn,
und von Liebesmacht bezwungen
schenkt ihr Herz dem schönen Jungen
selbst die Königstochter gern.
Aufwärts geht es schnell und leicht,
jedes Hindernis entweicht.
Sieh, es schwebt die Königskrone
über’m Haupt dem Hirtensohne,
und das Höchste ist erreicht.
Um so tiefer ist der Fall,
weckt ihn Abendglockenschall.
Statt Fasanen gibt es Grütze,
seine Krone ist ’ne Mütze,
und sein Schloss ein Hammelstall.
Heinrich Seidel (1842 –1906)
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